Uriel

Die Schmerzen erwachten wie jeden Morgen vor ihm und zogen sich erbarmungslos durch seine schlaffen Gliedmaßen bis hinauf zu seinem Becken. Andrej riss seine Augen auf, hielt die Luft an und wartete, denn mehr konnte er nicht tun. Wie ein Feuersturm zerrten die Schmerzen an den sensiblen Nerven des Jungen, der bewegungslos in seinem alten Bett lag und konzentriert die graue Zimmerdecke beobachtete, bis das brennen in seinem Unterleib wieder erträglicher wurden. Erleichtert stieß er die Luft aus. Am liebsten wäre er liegen geblieben, hätte einen weiteren Tag nur hier verbracht, doch seine Blase hatte andere Pläne. Und so wartete er noch einen Moment, bis die Schmerzen abgeklungen waren, wohl wissend, sie mit seiner nächsten Bewegung erneut zu wecken. Still zählte er bis drei, zog scharf die Luft ein, ballte seine Hände zu Fäusten, bis sich seine Nägel in die Handflächen bohrten, und richtete seinen Oberkörper mit einem Stöhnen auf. Mit viel Bedacht stemmte er sich hoch und rutschte zur Bettkante. Er packte seine Beine, wuchtete sie aus dem Bett und musste dann einen Augenblick innehalten, bis er den Pegel der Erträglichkeit neu fand. Wieder tief einatmend blickte er auf seine pochenden Beine und hätte vor Wut am liebsten auf sie eingeschlagen, wenn er nicht genau gewusst hätte, dass dies den Schmerz nur um ein Vielfaches ansteigen lassen würde. Wie angenehm war doch der Schlaf, wo er in seinen Träumen durch Wiesen und Felder tollen konnte, nichts als das Gras unter seinen nackten Füßen spürte oder den Wind in seinem Haar. Die Realität hingegen hatte etwas von der alten Zimmerdecke, die jeden Morgen als Fixpunkt herhalten musste; grau, stumpf und monoton. Erneut die Luft anhaltend ergriff er mit der linken Hand seinen Rollstuhl, stemmte sich mit der anderen vor und ließ sich ungeschickt in das Gefährt gleiten.

Sein leicht rundliches Gesicht verzog sich zu einer regungslosen Maske, und sein Geist konzentrierte sich. Suchend blickte er sich im Schlafzimmer um, einen Punkt zu fixieren, den er in seinen Vorstellungen allein mit seinen Gedanken am liebsten in Stücke zerschmettert hätte. Sein Blick wanderte von der Kommode auf das mit leicht wehenden Gardinen verhangene Fenster. Fahles Licht zwängte sich durch die Öffnung und ließ den Jungen nur das Nötigste erkennen. Der Schatten des Nachbarhauses hinter diesen Vorhängen hielt die Sonne verborgen, sodass das Licht bereits eine Hürde nehmen musste, bevor es auf den alten verschlissenen Möbeln aufschlug. Der große braune Kleiderschrank neben der Tür stand offen und die abgetragenen Pantoffeln seines Großvaters davor. Er war vermutlich allein, und so richtete er seinen Zorn auf die Pantoffeln, bis die Schmerzen in seinem Unterleib erträglich waren. Er atmete aus, gab den Rädern einen Schwung und rollte sich geschickt seitwärts zur Tür. Dort angekommen zog er an einem klobigen Hebel, der aus der Wand ragte, und das klapprige Brett, welches die Tür ersetzte, fuhr zischend zur Seite. »Großvater?«
Er rollte sein Gefährt auf den kalten Flur und blickte zur Wohnungstür, nachdem er in der Küche gegenüber seinen Großvater nicht hatte finden können.
»Großvater, bist du da?«, fragte er noch einmal und rollte weiter den kahlen Flur in Richtung Badezimmer entlang, das direkt neben der Eingangstür anwinkelte. Die Bewegung seiner Arme, mit denen er die drahtigen Räder über den staubigen Holzboden bewegte, zerrten an seinem Unterleib und verursachten einen ziehenden Schmerz durch seine Lenden, was seine ohnehin schon geschwächte Blase noch mehr reizte.
Andrej hielt inne, rieb sich abwesend die Oberarme und blickte dabei auf die Klappe neben seiner Armlehne. Eine kleine Glimmlampe leuchtete unter einer blassen, grünlichen Glasscheibe. Sein Großvater hatte, bevor er das Haus verließ, den Rollstuhl aufgeladen. Andrej warf einen abschätzenden Blick zur Haustür und wieder zurück auf das verschnörkelte Holz unter seinem linken Arm. Würde es genügen?
Mit einem leichten Grinsen öffnete er das Holz wie ein Schmuckkästchen und legte mehrere grobe Schalter frei. Er zog einen klobigen Hebel mit einem Zischen an der rechten Seite und legte seine andere Hand an zwei der größeren der Schalter in der Armlehne. Einen von beiden klappte er einmal vor und kurz darauf wieder zurück. Der Rollstuhl vibrierte etwas, zischte und bewegte sich ruckartig voran. Dass Andrej die Schalter zurückgelegt hatte, schien keine Wirkung zu haben. Der Druck in dem kleinen Dampfkessel am hinteren Ende nahm zu, und Sekunden später krachte der Junge unkontrolliert gegen die Wohnungstür. Andrej hatte es nicht geschafft, den großen Hebel zurückzuziehen. Der Stuhl schlug nun seitwärts gegen die Badezimmertür, kippte zur Seite und warf den Jungen auf den nackten kalten Boden. Zischend bewegte die Mechanik unaufhörlich die Räder voran, bis der Druck aus dem kleinen Kessel verbraucht war.
Andrej lag am Boden, unfähig, sich zu bewegen. »Großvater!«, rief er durch die kleine Wohnung, in der Hoffnung, der alte Mann befände sich in seiner Werkstatt. Doch niemand antwortete.

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