NNT 275
„Lass sie gehen“, flüsterte eine leicht vertraute Stimme als Teil des Windes. Eliot Steel wandte sich um und traute weder Augen noch Ohren. „Lass sie gehen“, forderte sie wiederholt auf. Fassungslos sah er in das Gesicht von Selina, die keine drei Meter vor ihm stand. Der eigentliche Schock war nicht, dass das kleine Mädchen barfuß und in ihrem Sommerkleid bei minus fünfzehn Grad hier auf dem Planeten NNT 275 stand, es war eher das Wissen, dass sie vor vier Jahren auf einer Lichtjahre entfernten Station gestorben war. Destotrotz schälte sie sich wie ein weißer Engel aus dem Finsteren der Nacht, die diesen toten Wald umschlungen hatte. Nur der Schnee und Selina selbst erlaubte es, dem fahlen Licht der Monde hier unten zur Geltung zu kommen.
„Selina?“, seine Stimme klang durch seiner Atemmaske metallisch und verzerrt. „Was …?“, fragte er verunsichert darüber, was er überhaupt fragen oder sagen sollte.
„Sie wollen es nicht“, antwortete sie leicht weinerliche und hob ihre blasse Hand. Mit zitternden Zeigefinger deutete sie zu den Kisten auf dem Transporter. „Die Sciuri Protox.“

Eliot sah hinter sich auf die kleinen Boxen, in denen sich mehrere der hier einheimischen Tiere befanden. Natürlich wollen sie das nicht, wer will schon gefangen sein. Er wandte sich wieder zu Selina um; sie war verschwunden. An ihrer Stellte tanzten Schneeflocken um die schwarzen Hölzer, die diesen Wald schufen, setzten sich auf Zweige und Stämme und ließen diese raue Natur beinahe romantisch erscheinen.


Sein Blick galt wieder den Boxen, die Tiere im Inneren froren hier draußen. Ihr Lebensraum waren tiefen Höhlen, wo sie unabhängig ihrer Gattung in großen Gruppen lebten, niemals war ein solches Tier allein. Auf der Erde, ihren künftigen Bestimmungsort, trennte man sie, da sie dort ohnehin nur ein paar Jahre überlebten, es war schlicht zu warm und die Atmosphäre deutlich zu dünn. Diese und andere Gründe gab es von offizieller Seite für das Verbot, diese Tiere zu fangen und zu verkaufen. Natürlich hielt es niemanden davon ab, es trotzdem zu tun, die Nachfrage nach außerirdischen Monstern war hoch wie nie. Innerlich war Eliot unzufrieden mit dem, was er tat, aber es blieb ihm keine Wahl, er brauchte das Geld und letztendlich zählt das Recht des Stärkeren, auch wenn er ebenso tief in sich wusste, dass das großer Unsinn war. Selinas Tod, der ihn bis heute verfolgte, erinnerte ihn regelmäßig daran. Ehe sie starb, hatte sie ihn gewarnt und er sie ignoriert – sie war nur ein Kind. Welch Ironie; hätte er auf sie gehört, dem Schwachen Beachtung geschenkt, wäre sie noch am Leben und mit ihr zwanzig andere Menschen – darunter vier aus seinem damaligen Team.
Hätte ich doch nur auf sie gehört! Verfluchte er sich nun schon seit Jahren für den Fehler, der ihm sein angenehmes Leben kostete. Aber es war geschehen und Selinas plötzliches Erscheinen, hier auf diesen unwirtschaftlichen Planeten, änderte nichts daran. Was sollte sich auch ändern? Es sind doch nur Tiere. Er sah wieder auf die Boxen mit den seltsam geformten Geschöpfen. „Lass sie gehen“, hallte es in seinem Kopf.
Seine behandschuhten Finger gaben die Codenummer ein.
„Lass sie gehen …“