Der Verlorene Sohn

„Aufstehen! Die Sonne lacht!“, rief Janette Hanson fröhlich, als sie die Tür zu dem kleinen Zimmer ihrer Söhne aufstieß. Zielstrebig ging sie auf das schmale Fenster zu und zog die königsblauen Vorhänge zur Seite, um das Licht des frühen Sommertages in den bunten Raum ihrer Jungen strahlen zu lassen. Warm breitete sich das Licht auf den rot karierten Decken beider Betten aus. Mit sanften Lächeln im Gesicht, stellte sie sich an die kleine Schlafstätte zu ihrer Linken: „Guten Morgen, mein Schatz.“, flüsterte sie und zog dabei die Decke zurück; doch das Bett war leer.
„Marc … “, fragte sie einen Moment stutzig und blickte sogleich zum Bett seines größeren Bruders Jacob, wo sie den Fünfjährigen nun vermutete. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er seinen jüngeren Bruder über Nacht vor den Monstern unter dessen Bett beschützt hätte.
„Marc? Jacob?“, fragte sie erneut und berührte ihren Sohn vorsichtig am Kopf, um ihn zu wecken.
Der Siebenjährige wachte gähnend auf: „Hallo Mum.“
Schlaftrunken sah er sie fragend an, als sie mit blassen Gesicht zu ihm herabblickte, als sie feststellte, dass ihr Ältester allein in seinem Bett lag.
„Jacob, weißt du, wo dein Bruder ist?“
„Nein, Mum, was ist den los?“, murmelte er noch immer schlaftrunken und rieb sich die Augen aus.

Er ist nicht hier. Sie runzelte die Stirn und überlegte fieberhaft. Vielleicht ist er auch unbemerkt an mir vorbeigehuscht?

Schweigend verließ sie das Kinderzimmer und schaute auf der Toilette nach. Doch auch dort war ihr Jüngster nicht zu finden.
„Marc, wo bist du?“, rief sie, eilte in das elterliche Schlafzimmer und anschließend die Treppe hinunter.
Unbehagen und ein beklemmendes Gefühl breiten sich nun spürbar in ihrer Brust aus.
„Marc? Darling, so antworte doch!“ Ihr Ruf hallte nach oben, während sie durch das Erdgeschoss hastet und innerhalb nur weniger Minuten jede Tür öffnete. Gehetzt blickte sie sich in jedem Zimmer um. Hilflosigkeit stieg in ihr auf. Als Marc immer noch nicht aufgetaucht war, durchsuchte sie erneut allen Räumen ihres kleinen Vorstadthauses, noch hektischer, getrieben von verzweifelten Gedanken. Hinter jedem verborgenen Türwinkel warf sie ihren Blick, selbst schmale Ritze und Kannte die kaum groß genug für den Jungen waren überprüfte sie misstrauisch und gründlich. Sie riss die Schränke auf, schaute unter dem Sofa und jedem Bett, hob die Decken und Kissen. Ärgerlich, und doch vor Kummer heiser, schimpfte sie laut, dass der Spaß nun zu Ende sei. Marc jedoch blieb verschwunden.
Die hölzerne Luke auf den Küchenboden wurde von ihr nun schon zum zweiten Mal aufgerissen. Ihre Rufe klangen mit jeder Minute peinvoller. Als sie schließlich das kleine, gepflegte Grundstück zu umwandern begann und über jeden Zaun den Namen ihres Sohnes rief, wurden die Nachbarn auf sie aufmerksam.

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