Heimfahrt

Noch drei Minuten. Die kalte Luft der Nacht brannte in ihren Lungen wie glühende Nadeln und die feinen Tropfen des Nieselregens mischten sich mit ihren verschwitzen Haaren. Das grünglimmende „S“ des Bahnhofs stach ihnen aus der Dunkelheit entgegen. »Komm schon!«, spornte Ronny seinen wenige Meter hinter ihm schnaufenden Freund an. Marcel war längst nicht mehr in Topform. Damals in der Schule war dies genau andersherum. Ronny hatte eine Diät nach der anderen durchgestanden, Marcel hingegen seit beginn der Lehre nichts mehr für seine Kondition getan: »Alter …!« keuchte er, als er anzog und den Rest seiner Antwort hinunterschluckte. In seinem Kopf entstand der Gedanke, sich wie eine heroische Figur fallen zu lassen und in theatralischer Manier Ronny zu bitten, ihn zurückzulassen. Nur wusste er genau, dass dieser dies nie zulassen würde, eher würde auch er die letzte S-Bahn fahren lassen. Als hätte Ronny diesen Gedanken erahnt – und es war nicht das erste Mal, dass sie vollkommen gleich dachten – fasste er ihn plötzlich unter den Arm und zog ihn mit sich.

Völlig außer Atem und am Ende ihrer Kräfte erreichten sie den Bahnsteig und lehnten sie sich gegen einen der Graffiti beschmierten Pfeiler.

»Keine Sekunde zu früh … « Ronny deutete die Gleise hinauf; man konnte bereits die grellen Lichter der S-Bahn erkennen, die wenige Augenblicke später laut rauschend in den Bahnhof einfuhr. Im hintersten, beinahe vollkommen leeren Wagon suchten sie sich ihren Platz in der letzten Bankreihen. Schwer atmend und sich gegenüber sitzend, die Füße jeweils neben dem Anderen auf den Sitze gelegt, blickten sie schweigend aus dem Fenster. Marcel sah Ronny über das Spiegelbild im Fenster an und grinste, als er an seine „Filmreife“ Idee zurückdachte. Es blieb unbemerkt, die Augen seines Freundes waren auf etwas außerhalb von seinem Blickwinkel gerichtet: »Wann musst du morgen zum Schinder?«, versuchte er nun die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Acht!«, antwortete er knapp und blickte ihn dabei nicht einmal an. »Also ich hab frei, den ganzen Tag«, er streckte sich: »Wohlverdiente Faulheit«. Er verschränkte die Arme und sah Ronny direkt in das abwesende Gesicht. Dieser lächelte flüchtig zurück und suchte sofort wieder den bisher verborgenen Punkt in Marcels Rücken. »Was guckst du eigentlich immer da rüber?«, motzte Marcel schließlich, drehte sich um und erkannte einen jungen Mann in etwa ihrem Alter, der tief in sein Smartphone versunken war. Ein weißes Kabel ging von dem Gerät in seine Ohren, die von seinen lockeren und gepflegten Haaren verdeckte waren. Marcel schüttelte lächelnd den Kopf, als er das Gesicht des Fremden genauer betrachtete: »Ah, verstehe.« Ronny sah ihn verurteilend an und zischte: »Nein, tust du gar nicht.« »Wieso nicht?« »Weil du keinen Plan hast!« Ärger klang in seiner Stimme mit. Marcel zuckte mit den Schultern, schließlich war er durchaus im Bilde. Seit Ronny ihm vor mehr als vier Jahren das „große undenkbare Geheimnis“ beichtete, hatten sie zwar nie wieder darüber gesprochen, aber es stand seit dem immer irgendwo mit im Raum. Marcel hat es sogar schon sehr viel länger gewusst, daher hatte ihn das Outing weder überrascht, noch geschockt. Überrascht hat ihn nur, dass das schon fast klischeebehaftete »… und ich bin in dich verliebt« ausblieb.

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