Alte Zeiten

Das Jackett sitzt perfekt, die Haare sind gekämmt und ich bin frisch und gründlich rasiert. Sogar den Ohrring habe ich herausgenommen. Die Krawatte habe ich heute Morgen allerdings auf dem Stuhl liegen gelassen. Was trieb mich nur dazu, die herauszulegen? Stattdessen habe ich mich entschieden, den obersten Hemdknopf offen zu lassen, es gefiel mir. Ein Kontrollblick in den Spiegel stellt mich zufrieden. So ordentlich war ich damals nicht einmal zu meiner Bewerbung angezogen, selbst ins Büro gehe ich oft in Jeans und T-Shirt. Doch für diesen Tag möchte … nein, muss ich perfekt sein. Noch einmal prüfe ich den Sitz meiner Haare, dann erneut meine komplette Erscheinung. Minutenlang starre ich in den Spiegel und frage mich, ob es richtig ist. Die alten Zweifel steigen in mir auf. Beinahe anklagend starrt mein Spiegelbild mich aus dunklen Augen an. Es sind meine Augen, auch wenn ich sie nur schwer wiedererkenne. Noch nicht vergessen ist das einstige Leuchten, welches ich damals einbüßte, als ich Anton das letzte Mal sah. Wird es heute wiederkommen, wenn ich mein mir selbst gegebenes Versprechen endlich erfülle? Nach all den Jahren? Ich wollte ihn schon so lange besuchen, doch meine Feigheit hielt mich immer wieder davon ab. Dieselbe Feigheit, die mich jetzt dort aus dem Spiegel anklagt, ja geradezu angreift.

Ich balle meine Hände entschlossen zu Fäusten; heute werde ich es endlich hinter mich bringen. Ich habe alles vorbereitet; keinen Termin, das Telefon abgeschaltet, den Laptop auf der Arbeit liegen gelassen. Übrig ist nur die nagende Schuld in mir, diesen Schwur solang vor mir hergeschoben zu haben … und natürlich mein Lebenspartner, der mich wochenlang dazu drängte. Um meinetwillen, so sagt er es jedenfalls, doch er weigert sich vehement, mich zu begleiten. Vielleicht ist es auch besser so. Noch immer starrt mich dort dieser schmierige Typ aus dem Spiegel an, bis ich es nicht mehr aushalte und das Jackett herunterreiße. Nur Minuten brauche ich, meine alte Jeans und das abgetragene T-Shirt zu finden. Was würde auch besser für den Besuch passen? Es waren schließlich die Neunziger, in denen wir uns trafen und beste Freunde wurden. Keiner von uns trug damals einen Anzug, oder dachte auch nur daran, jemals einen zu besitzen. Ich nehme das sorgfältig verpackte Geschenk auf, welches ich bereits vor neun Jahren anfertigen ließ, als mich mein Gewissen das erste Mal an diesen Punkt brachte, an welchem ich jetzt wieder stehe. Heute, bei meinem vierten Anlauf, werde ich es endlich durchziehen!

Der Fahrstuhl bringt mich zügig in die Tiefgarage meines Wohnblocks und kurz darauf befinde ich mich schon im Mittagsverkehr der Hannoverschen Innenstadt. An jeder Ampel fällt mein Blick auf das kleine Päckchen auf dem Beifahrersitz, das nun die Anklage des Spiegels übernimmt. Ein zu langes, energisches Hupen hinter mir erinnert mich daran, dass eine Ampel irgendwann auch mal wieder grün wird. Meine Gedanken sind nach wie vor bei Anton.

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